Auf Berlin gingen während des Zweiten Weltkrieges mehr Bomben nieder als auf jede andere deutsche Stadt. Das erste Mal wurde Berlin in der Nacht vom 7. auf den 8. Juni 1940 von französischen Marinefliegern als Vergeltungsaktion angegriffen. Zahlreiche weitere Angriffe folgten dann bis Anfang 1943. Am dem 16. Januar 1943 bombardierte die britische Royal Air Force Berlin erneut und bis zum 30. März 1943 wurden u.a. weite Teil des Bezirks Tempelhof, die Deutschlandhalle, die St. Hedwigs-Kathedrale sowie das Deutsche Opernhaus getroffen. Bei diesen Angriffen entstanden über 600 größere Brände und Schäden an mehr als 20.000 Häusern. Es wurden ganze Stadtteile zerstört und mehrere hundert Menschen starben. Während dieser Zeit der intensiven Luftangriffe wurde der unten stehende Brief von Berlin nach Schneflingen geschickt.
Am 18. März 1943 verfassten Wilhelm, Elisabeth und Kläuschen einen Brief nach Schneflingen bei Wittingen. Darin schildern die Verfasser die Bombenangriffe sowie die Folgen sehr deutlich.
Wer genau die Empfänger waren und wo sie in Berlin wohnten, lässt sich nicht mehr klären. Der dazugehörige Briefumschlag mit Absendernamen und Adresse ist nicht mehr erhalten. Gefunden wurde dieser Brief auf der Haushaltsauflösung des Hofes Wolf/Paelecke in dem kleinen Dorf Schneflingen südlich von Wittingen.
Berlin, d. 18.III.43.
Ihr Lieben alle!
Da Ihr mich und unseren kl. Liebling noch nicht kennt und auch in dieser ernsten Zeit keine Meinung habt uns zu besuchen, wollen wir uns doch wenigstens im Bild mal vorstellen. Der Kleine ist jetzt recht drollig, ein richtiger kl. Wildfang. So ganz wie ein Junge sein muß und so wie ich ihn mir immer gewünscht habe. Aber trotzdem ist er sehr artig dabei, verwöhnt habe ich ihn nicht. Bei diesem schönen Wetter ist er von 12-7 Uhr draußen. Weinen tut er selten, er wie genau, daß er nichts damit erziehlt. Ein Kindchen bringt dich unendlich viel Freude. Vor 4 Wochen war Rieckchen 3 Tage hier. Sie kann froh sein, daß sie den Angriff hier nicht miterlebt hat. Der war zu furchtbar. Mir steckt der Schreck noch in den Gliedern. Beim geringsten Geräusch zucke ich zusammen und denke es ist Allarm. Das letzte mal wird es auch nicht gewesen sein. Es waren nachdem schon wieder Aufklärer hier und warfen am hellen Tage Bomben. Also müßen wir auf alles gefaßt sein. Wenn es Abend wird, ist einem schon angst und bange und vorher war ich immer so gleichgültig und war immer froh wenn Wilhelm nichts sagte, daß wir in den Keller wollten. Und jetzt zittere ich an allen Gliedern, wenn die Sirene geht. Es war aber auch zu furchtbar. Beschreiben kann ich es gar nicht. Um uns herum sieht es böse aus. Wir sind wie durch ein Wunder verschont geblieben. Sonst immer und Außenfenster alle zertrümmert. Aber wir haben doch unser Heim noch. 56000 haben es nicht mehr. Davon fallen auf Steglitz allein 20000 Obdachlose. Wir sollten auch welche aufnehmen. Als man sich jedoch überzeugt hatte, das alle Fenster raus waren, nahm man Abstand. Sonst hätten wir es gern getan, denn die armen Menschen tun einem so leid, wenn sie vor einem Nichts stehen. Und wer weiß ob es nicht uns das nächste Mal trifft. Wir haben im Keller gesessen und sahen den Todt nur jeden Augenblick vor Augen. Wir hörten wie die Bomben einschlugen und dazu das Geballter der schweren Flack. Es hat auch Niemand geglaubt, daß wir das Tageslicht wieder erblickten. In unserem Hinterhaus ist eine Wand eingestürzt. Als der Kellerfenster zerschlug und Staub und Mörtel hereinflogen war es bei den meisten mit der Fassung aus. Einer sah dem Andern entsetzt an und Jeder hatte nur ein Gebet auf den Lippen.
Und als wir denn raus kamen, nein dieser Anblick war zu schrecklich. Ich werde es in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Als ob die Hölle los wär. Wo man auch hinsah überall Schutt und Scherben. Feuer an allen Ecken und Enden und dazu der fürchterliche Sturm. Es war ein entsetzliches Chaos, und hatte den Anschein als ob ganz Berlin in Flammen aufgehen sollte. Die Feuerwehr war jedenfalls nicht wo sie hin sollte. In unser ganzen Umgebung war jedenfalls keine. Uns schräg gegenüber und hinter uns brannte fast die ganze Straße aus. Von oben bis zum Erdgeschoß. Die Menschen hatten Last wenigstens die noch nicht brennenden Häuser zu schützen. In unserer Wohnung sind die Decken gerißen und ein Türschloß rausgerißen. Der Wind heulte nur so durch die Wohnung. Ich war die Nacht und am andern Tag mit dem Kleinen bei den Leuten unter uns. Die hatten wenigsten im Wohnzimmer heile Fenster. Alle Fenster wurden mit Pappe vernagelt. Wer weiß wenn sie noch gemacht werden. Die Glaser sind ja schon aus aller Welt eingesetzt. Aber es ist ja auch unendlich viel kaputt. Zu beiden Seiten der Straße lag ein Wall von Scherben. Am nächsten Tag waren wir wie von aller Welt abgeschlossen. Es kam keine Post und keine Zeitung, ging kein Telefon, fuhr keine S- und Straßenbahn. Die Feuerwehr rasselte andauernd, Sicherheits- und Hilfsdienst, Rettungswagen und Volksgenossen mit ihrem letzten Hab und Gut auf Wagen, Karren oder im Bündel belebten das Straßenbild. Überall vergrämte Gesichter. Diese eine Nacht hat die Menschen um vieles ernster gemacht. Wie hoch die Zahl der Opfer ist wird gar nicht bekannt gegeben. In der ersten Woche waren es 486 Tote und 377 Schwerverletzte. An manchen Stellen arbeiteten Bagger um Verschüttete zu bergen. Aus einem Keller wurden 45 Leichen geborgen; Sie sollen sich in ihrer Todesangst alle aneinander geklammert haben. 40 Soldaten, welche Aufräumungsarbeiten machten, wurden von einem einstürzenden Haus verschüttet und zerschmettert. Auf einem Friedhof in unserer Nähe wurden an einem Tag 100 beerdigt. 2 Tage nach dem Angriff brach in unserer Nebenstraße nochmal Feuer aus, Phosfor war trocken geworden und hatte sich wieder entzündet. Es ist nur gut, daß das Wetter jetzt so schön ist, sonst würde der Schaden immer noch größer. Als es natürlich regnete kam es bei uns auch schon durch. Ich wüßte noch vieles mehr, kann es aber nicht alles auf Papier bringen.
In der Hoffnung daß es Euch allen gut geht grüßen Euch Wilhelm, Elisabeth u. Kläuschen.